Editorial
«Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat» – so Aristoteles. Aber er wusste auch, dass ein solches Ganzes in der menschlichen Welt eigentlich nicht vorkommt. Denn der Anfang soll nicht irgendwann, sondern zur rechten Zeit erfolgen, das Ende ebenso, und die Mitte soll getragen sein von einer guten Form, die sich vom Anfang zum Ende aufspannt. Aber wann ist die richtige Zeit? Und was eine gute Form? Haben wir nicht fortwährend die Erfahrung, dass wir zu spät sind oder zu früh, dass die Dinge zu schnell vorübergehen oder zu langsam, und überhaupt würden wir ja gern, aber gerade jetzt?
Gerade von der Musik erwarten wir normalerweise, dass sie hier Zuverlässigkeit schafft. Die sprichwörtliche Zeitkunst ist zuständig dafür, die Zeit in eine gute Ordnung zu bringen. Ein Stück soll ein Ganzes sein ganz in Aristoteles’ Sinne, ein Konzert zu angemessener Zeit beginnen und enden, nicht zu lang und nicht zu kurz sein, sondern: genau richtig. Aber auch dieses Jahr macht das Musikfestival Bern solchen Erwartungen einen Strich durch die Rechnung. Nachdem uns im vorigen Jahr das Irrlicht ins Unbekannte gelockt hat, wird diesmal die Zeit zum Problem. Auch wenn man so genau nicht sagen kann, was die richtige Länge eines Konzertes oder auch eines Vortrages ist, ist eins doch klar: eine Minute ist zu kurz und 48 Stunden sind auf jeden Fall zu lang. Aber zwischen diesen Längen, den Minutenvorträgen des zunehmend dissoziierten assoziierten Philosophen und dem Non-stop-Minifestival des Ensembles Polygon, bewegen sich die Formate des Festivals. Und auch sonst gerät einiges durcheinander.
Es beginnt, wo auch sonst, gleich am Anfang: Der Eröffnungsabend fängt zu früh an, sprengt jede vernünftige Dimension, würfelt alles Mögliche durcheinander, und mittendrin bekommen wir etwas zu essen (immerhin, möchte man sagen). Am Samstagabend hört ein Konzert im Münster einfach nicht mehr auf, bis zur Geisterstunde. Der Zytglogge läutet falsch. Das sehr Alte und das ganz Neue mischen sich auf Schritt und Tritt. Jürg Kienberger stört fortwährend. Hundert Metronome können sich nicht einigen und hören schliesslich, eins nach dem anderen, auf, und beenden das Festival.
Im Zentrum, wenn man bei diesem unzeitigen Gemenge von einem Zentrum sprechen kann, steht der Komponist Bernd Alois Zimmermann (1918–1970), der in diesem Jahr hundert Jahre alt geworden wäre und sich nun, 48 Jahre nach seinem Tod, darüber freuen kann, in Bern Composer in Residence zu sein. Zu seinen Ehren finden an jedem Festivalabend von 19.18 Uhr bis 19.70 Uhr Konzerte statt, in denen zeitgenössische Komponist*innen mit eigenen Arbeiten auf Werke von Zimmermann reagieren, seine Werke tauchen auch sonst im Festival immer wieder auf, und es gibt sogar einen Vortrag zu Zeit und Zimmermann.
Seine Vorstellung war die einer inneren Zeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keine Gegensätze bilden, sondern gleichermassen anwesend sind und miteinander interagieren. Wenn wir uns in einer solchen unzeitigen Zeit finden, ist in ihr kein Platz für einen einzigen Anfang, eine Mitte und ein Ende, eher für viele Anfänge, Mitten und Enden. Und das ist ja auch ein wenig tröstlich: Dann müssen wir uns auch in einem so reichhaltigen Programm wie dem des diesjährigen Musikfestivals nicht abhetzen. Wir sind eh zu spät, und trotzdem, oder eben deshalb, immer genau richtig.
Christian Grüny & das Kuratorium