Musikfestival Bern 2020 «Tektonik»
Als wir uns vor zwei Jahren für das Festivalthema «Tektonik» entschieden, schwebten uns – über hundert Jahre nach Alfred Wegeners bedeutendem Buch «Die Entstehung der Kontinente und Ozeane» – gross und kleinräumige Verschiebungen vor, Schichtungen, Faltungen und Risse in den unterschiedlichsten Ausprägungen.

So trittfest uns die Erdkruste scheint, so birgt sie doch Ungewährtes. Wir dachten deshalb an jene tiefgründigen Bewegungen der Plattentektonik, die zu Gebirgen, aber auch zu Erdbeben führen. Von da her war es naheliegend, einen Komponisten als Gast dazu einzuladen, der diese Ereignisse aus der Nähe erlebt und in seine Musik eingebracht hat: den Japaner Toshio Hosokawa.

Wir meinten damals noch andere Transformationen: jene gesellschaftlicher, sprachlicher, künstlerischer, gerade auch musikalischer Art. Die Welt ist in Bewegung, dachten wir, und dem ist Rechnung zu tragen, der Unsicherheit und dem Potenzial… So lustvoll sich freilich ein Crash in Tönen inszenieren lässt, so schmerzhaft ist er in anderen Dimensionen…

Tektonik: Man wählt ein solches Thema insgeheim aus, um auf etwas aufmerksam zu machen, um die Reflexion darüber in Gang zu bringen oder zumindest weiter zu halten. Ob man es sich freilich auch wünscht, dass eine solche Veränderung gerade stattfinde – und auf welche Weise? Das jedoch ist geschehen. Die Erdkugel und mit ihr unsere Welt hat sich seither nicht nur weitergedreht, sie hat sich weiterentwickelt. Es ist nicht einfacher geworden. Gesellschaftliche Bewegungen sind entstanden, die die Bedrohungen des sich längst vollziehenden und auch längst bekannten, aber allzu lange von vielen negierten Klimawandels ernst nehmen. Vor allem engagiert sich eine junge Generation. Eine neue Dringlichkeit ist spürbar geworden, und sie sollte auch in der Konzeption des diesjährigen Festivals sichtbar sein. Deshalb entschlossen wir uns, auf diese Thematik in einer besonderen Reihe zu fokussieren: In «5vor12um6» treffen sich Wissenschaftler*innen und Komponist*innen zu einem Dialog. Klimawandel, Ungleichheit und Transformation sind die Themen.

Bloss: Als wir diese Reihe im Spätherbst 2019 konzipierten, ahnte noch kaum jemand, was uns das Frühjahr 2020 bringen würde: einen winzigen Virus, spukhaft geradezu, der sich schier hemmungslos vermehrt und die Welt auf den Kopf stellt. Die Corona-Krise hat Krankheit und Tod gebracht, sie hat Ordnungen in Frage gestellt, hat uns eingeengt, gelähmt, sie hat vieles verhindert und einiges ausgelöst – was alles, wissen wir noch gar nicht so genau.

Es ist Anfang Juni, da wir dieses Editorial formulieren. Das Musikfestival Bern soll stattfinden, wenn auch etwas anders als ursprünglich geplant. Das ist der momentane Stand. Worte werden schnell obsolet, aber das kann nicht das Problem sein. Die Krise ist noch nicht ausgestanden, vielleicht noch lange nicht, und wenn sie einmal ausgestanden ist, wissen wir nicht, ob sie wiederkehrt, ob ähnliche folgen oder aber ganz anders geartete, denen wir derzeit noch nicht so viel Aufmerksamkeit schenken. So bleibt uns die Gewissheit der Ungewissheit. Dennoch müssen wir etwas tun, stand zunächst am Schluss dieses Editorials. Ja, sicherlich, aber was zu tun ist sinnvoll? Deshalb, dachten wir, müsse ein anderer Schluss her, aber welcher? Wir haben noch keinen…

Das Kuratorium