Musikfestival Bern 2019 «rauschen»
Hinterher kann man sich wieder an nichts erinnern. Der Abend war grossartig, die Stimmung blendend, die Augen strahlten, die Worte glänzten, die Getränke schmeckten so gut. Und dann, irgendwann, wurde es immer schneller, die Klänge verwischten so sehr wie die Bilder, das Rauschen wurde immer lauter, und dann nichts mehr. Heute bleibt nur das Schweigen, und der Wunsch, die Welt möge auch schweigen. Aber zum Glück gibt es ja Schmerztabletten.

Rauschen und Rausch sind eng verwandt, und das nicht nur sprachlich. Die Welt, in der wir uns bewegen und orientieren, ist geordnet. Für diese Ordnung müssen wir nicht allein aufkommen, aber wir sind ständig damit beschäftigt, sie aufrechtzuerhalten. Schliesslich könnte alles auch ganz anders sein, wir könnten ganz anders sein, anders sprechen, uns anders verhalten, unsere Städte könnten anders aussehen, unsere Musik ganz anders klingen. Die Erfahrung des ganz anderen ist oft genug sehr nahe am Rauschen: Für die Griechen waren die Anderen Barbaren, weil ihr scheinbares Sprechen nur unverständliches Gestammel, bar-bar, Rauschen war. Aber sie sind auch verführerisch, genauso verführerisch wie es ist, die Kontrolle fahren zu lassen, sich gehen zu lassen. Die Verführung von Rausch und Rauschen ist die Auflösung von Selbst und Ordnung, das Schweigen der Stimme der Vernunft.

Nur im Zwischenraum zwischen Stille und Rauschen gibt es Ordnung und Bedeutung, hier sind Sicherheit und Verlässlichkeit, hier kann man wohnen. Wenn unsere Kunst sich nicht damit zufrieden gibt, diesen Zwischenraum zu möblieren, fragt sie nach den Grenzen der Ordnung, nach anderen Möglichkeiten, und dabei stösst sie immer wieder an die Grenzen von Ordnung überhaupt: Auf die Stille und das Rauschen.

Das Musikfestival Bern stellt dieses Jahr eine dieser Grenzen in den Mittelpunkt – und lässt dabei hören, dass das Rauschen sich nicht nur aussen findet, sondern immer schon im Inneren der Ordnungen. Es ist nicht schwer zu bemerken, dass wir von Rauschen umgeben sind, vom unaufhörlichen Tosen des Wassers bis zum kaum weniger unaufhörlichen Dröhnen des Verkehrs. Wer die Ohren ein wenig weiter geöffnet hat, hört das Rauschen auch im Leisen, in den Blättern und den Heizungen, und selbst dann, wenn jemand die Stimme erhebt oder ein Instrument zum Klingen bringt.

Insofern sie selbst Ordnung und Ordnungen schafft, hält die Musik das Rauschen in Schach – jeder, der ein Blas­ oder Streichinstrument spielt, hat das Zeit seines Lebens am eigenen Leibe erfahren –, aber insofern sie sich an ihren Grenzen bewegt, kann sie das Rauschen auch kultivieren und den Kontrollverlust inszenieren. Im diesjährigen Programm bekommen wir eine Vielzahl von Möglichkeiten vorgeführt, wie damit umgegangen werden kann, vom Rauschen der Elektronik, das die Technik als Quelle der Unordnung zeigt, bis zum Rauschen der Aare selbst, das so gut geregelt wird, wie es eben geht. Und der Rausch des Übermasses, der zu vielen Angebote, der Gleichzeitigkeit des Verschiedenen ist sowieso dabei – er ist beim Musikfestival Bern ja Tradition.

Am Ende kommen wir aber immer wieder zum Wasser zurück. Ist das Rauschen des Wassers nicht überhaupt einer der Ursprünge des Ästhetischen? Das Übermass an Formen und Ereignissen, das sich nie erschöpft, in dem und aus dem man alles hören kann, ehe es wieder zerfliesst? Wer an einem Fluss lebt, weiss, dass jede Form, jede Ordnung, jede Bedeutung sich am Ende auflöst und im Strom verschwindet. Das Rauschen aber bleibt.

Christian Grüny & das Kuratorium

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